Am 21. Februar fand abends in der Düsseldorfer Johanneskirche eine gut besuchte Ökumenische Passionsandacht statt. Sie stand unter dem Thema: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Ps 22,2; Mt 27,46) Eindrucksvolle Instrumentalstücke für Orgel und Saxophon, ältere und neuere Gemeindelieder, biblische Texte und aktuelle Fürbitten ließen die Besucher den Beginn der Passionszeit sehr bewusst erleben.
Im Mittelpunkt der Andacht stand die Predigt des neuen Kölner Erzbischofs Rainer Maria Kardinal Wölki. In seiner ruhig-bescheidenen und gerade deshalb ansprechenden Art führte er den Zuhörern die Verlassenheit des gekreuzigten Jesus vor Augen. Dass der Sohn Gottes mit Worten des 22. Psalms seine Gottverlassenheit zum Ausdruck bringt, zeigt den Höhepunkt der Passion, die Jesus nicht überlebt.
Von der Situation Jesu am Kreuz zog Wölki eine Parallele zu den vielen Menschen unserer Tage, die sich von Gott verlassen fühlen und keine Hoffnung auf Hilfe mehr haben, „Menschen, die nicht überleben werden, denen in diesem Leben keine Rettung mehr widerfahren wird.“ Als Beispiel nannte er unter anderen die Tausenden von Flüchtlingen, die voller Hoffnung an der Küste Afrikas irgendwelche Boote besteigen, um nach Europa zu gelangen – und dann im Mittelmeer ertrinken.
Wölki zögerte nicht, eine Mitschuld für diese Tragödien auch bei uns zu sehen. Dabei verwies er auf das Jesuswort in seinem Gleichnis vom Weltgericht: „Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.“ (Mt 25,45) Wölkis Aktualisierung lautete: „Wer Menschen im Mittelmeer ertrinken lässt, lässt Gott ertrinken.“ Bei diesen Worten zucke ich noch heute innerlich zusammen und frage mich: Ist das nicht eine Übertreibung? Für einen Augenblick schießt mir der Gedanke durch den Kopf: Gott steht doch über allem, er kann doch nicht ertrinken, denn ich selbst und mit mir alle Glaubenden der ganzen Welt beten doch zu ihm als dem Lebendigen. Doch im nächsten Moment wird mir klar: Ja, der Weltenrichter Jesus identifiziert sich mit den Bedürftigen, wenn er sagt: „Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen.“ Gott ist nicht nur jenseits der sichtbaren Welt – im „Himmel“ – er ist auch hier auf unserer Erde: er verbirgt sich auch in den einsamen Kranken und Sterbenden in unsern Krankenhäusern und Hospizen, in den Hungernden in Afrika und ebenso in den Flüchtlingen auf dem Mittelmeer und an vielen Orten der Welt. In ihnen allen verbirgt sich der Retter Jesus Christus und wartet darauf, dass wir ihn retten und zum Leben helfen. Sind wir so sehr mit uns selbst beschäftigt, dass wir ihn in seiner Not gar nicht wahrnehmen, sondern ertrinken lassen?
Kann es sein, dass uns die Hilfe suchenden Menschen auf den oft seeuntüchtigen Schiffen im Mittelmeer emotional zu weit weg sind, während uns für unsere Reise in den Urlaub die Länder rund ums Mittelmeer sehr nahe liegen?
Vor Jahren hörte man oft die Parole „Das Boot ist voll“. Mit dem Boot war allerdings Europa gemeint, in dem für weitere Passagiere kein Platz mehr sei. Ich behaupte nicht das Gegenteil, als ob Europa bei gleichbleibendem Wohlstand unendlich viele Menschen aufnehmen könnte. Aber geht es wirklich darum? Es sind viele Flüchtlinge, die bei uns Rettung suchen, aber nicht unendlich viele. Und wäre es nicht ein Gewinn an Lebensqualität, wenn wir noch besser lernten, mit Bedürftigen zu teilen? Bundesweit werden jährlich knapp 11 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen. 61 % davon stammen aus Privathaushalten (ZEIT online, 13.3.2012), vermutlich auch aus christlichen.
„Wer Menschen im Mittelmeer ertrinken lässt, lässt Gott ertrinken.“ In Gottes Augen ist jeder einzelne Mensch es wert, gerettet zu werden. Dazu gebraucht er auch uns. Jesus will uns mit seinem Gleichnis nicht alle Lasten der Welt aufbürden, sondern den Blick für den einzelnen Hilfsbedürftigen schärfen. Wenn viele sich für jeweils einen einzigen Menschen einsetzen, wird vielen geholfen sein.
Aus verständlichem Grund wollte Kardinal Wölki am Beginn der Passionszeit das Osterthema noch nicht voll entfalten. Gleichwohl machte er deutlich: Die Passion Jesu endet zwar tödlich, aber sie ist dennoch nicht das absolute Ende. Tod und Auferstehung Jesu bilden, so Wölki, einen „Ereignis- und Bedeutungszusammenhang“. Das heißt: Die Bedeutung der Passion Jesu verstehen wir annähernd erst dann, wenn wir uns die Osterbotschaft sagen lassen: Gott hat den für unsere Schuld gestorbenen Jesus zu einem unvergänglichen Leben auferweckt. In der Glaubensverbundenheit mit ihm erhalten wir Anteil an diesem Leben. Der Geist Gottes leitet uns an, Jesus nachzufolgen. Er motiviert uns auch dazu, alles daran zu setzen, dass Flüchtlinge nicht ertrinken. Und zugleich lässt er uns hoffen, dass auch das Ertrinken der vielen Flüchtlinge im Mittelmeer und anderswo nicht ihr absolutes Ende gewesen ist. Gott kann sie genauso zum ewigen Leben erwecken, wie er Jesus von den Toten auferweckt hat. Bis es soweit ist, möchte er aber, dass wir ihn auf seinem Weg nach Europa und zu unseren Herzen nicht ertrinken lassen. Kommen die Flüchtlinge bei uns an, dann kommt Gott bei uns an. Dann wird Jesus eines Tages sagen: ‘Kommt her! Euch hat mein Vater gesegnet. Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und ihr habt mich bei euch aufgenommen.“ (Mt 25,34f.)
P. Dr. Johannes Demandt, April 2015